Religionsfreiheit in der Schule
Artikel 8 Abs. 2 Bundesverfassung (BV) verbietet jede Diskriminierung aufgrund der religiösen Überzeugung einer Person. Zudem garantieren Artikel 15 BV und Artikel 9 der Europäischen Menschenrechtskonvention die Religionsfreiheit. Die Religionsfreiheit umfasst zwei verschiedene Aspekte: Die innere Freiheit, eigene religiöse Überzeugungen zu haben – oder nicht zu haben –, und die äussere Freiheit, entsprechende Überzeugungen und Weltanschauungen zu äussern und zu verbreiten. Nur die äussere Religionsfreiheit kann unter gewissen Bedingungen eingeschränkt werden (Art. 36 BV.).
Der verfassungsmässige Schutz gilt für alle Religionen, unabhängig von der Zahl der Personen, die sie in der Schweiz ausüben.
Lehrerin
Lehrerinnen dürfen in der Schule kein Kopftuch tragen, weil dies als offensichtliches religiöses Zeichen angesehen wird. Die Glaubens- und Gewissensfreiheit verpflichtet den Staat zur religiösen und konfessionellen Neutralität. Diese Neutralität ist in der öffentlichen Schule umso wichtiger, als der Unterricht für alle Kinder, unabhängig von ihrer Konfession, obligatorisch ist. Ausserdem wird mit der Gewährleistung der Neutralität verhindert, dass die Schule zu einem Ort der Konfrontation zwischen den Anhängern verschiedener Überzeugungen wird.
Die Haltung der Lehrpersonen spielt bei der Einhaltung der religiösen Neutralität eine wichtige Rolle. Denn diese können einen grossen Einfluss auf ihre Schüler_innen ausüben: Sie sind Vorbilder, für welche die Schüler_innen aufgrund ihrer Jugend besonders empfänglich sind, aber auch aufgrund der Zeit, die sie mit der Lehrperson verbringen und aufgrund des hierarchischen Charakters dieser Beziehung. Lehrpersonen verkörpern einen Teil der schulischen Autorität und vertreten auf diese Weise den Staat. Deshalb müssen sie darauf achten, ihre Überzeugungen diskret auszudrücken, dies gilt umso mehr, wenn sie in einer öffentlichen Schule arbeiten.
Quellen: BGE 123 I 296 und Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, Urteil Dahlab gegen die Schweiz, Beschwerde Nr. 42393/98 vom 15. Februar 2001
Schülerin
Schülerinnen dürfen in der Schule das islamische Kopftuch (Hijab) tragen. Solange sie die Religionsfreiheitihrer Mitschüler_innen nicht beeinträchtigen, besteht für Schülerinnen nicht dieselbe Neutralitätspflicht wie für Lehrerinnen. Das Tragen eines religiösen Symbols (in diesem Fall eines Kopftuchs) durch eine Schülerin hat nicht zur Folge, dass die Schule oder der Staat mit der entsprechenden Religion identifiziert werden. Die konfessionelle Neutralität, an die sich die Schulen halten müssen, ist keine Rechtfertigung für ein generelles Kopftuchverbot. Das Kopftuchverbot in einer Schule ist deshalb unverhältnismässig und verstösst gegen Artikel 15 BV.
Quelle: BGE 142 I 49
Dispensation vom Unterrichts
Dispensation von Fächern des obligatorischen Unterrichts aus religiösen Gründen.
Schwimmunterricht
Der Schwimmunterricht ist ein obligatorisches Schulfach, an dem folglich Schülerinnen und Schüler teilnehmen müssen. Die Pflicht zur Einhaltung religiöser Vorschriften stellt an sich keine ausreichende Begründung für eine Dispensation von einem Fach der obligatorischen Schule dar.
Die Schule spielt im Integrationsprozess eine entscheidende Rolle. Die Schulpflicht – einschliesslich der kantonsrechtlichen Pflicht zum Besuch des Schwimmunterrichts im Rahmen des Schulsports – hat zum Ziel, für alle Kinder die Chancengleichheit und die Gleichbehandlung der Geschlechter, d. h. die Gleichstellung von Mann und Frau in der (Aus-)Bildung zu gewährleisten.
Die Teilnahme am obligatorischen Unterricht geht der Religionsfreiheit vor, und die Dispensation von bestimmten Fächern muss eine Ausnahme bleiben.
Quellen: BGE 135 I 79 (2C_149/2008), bestätigt inden Bundesgerichtsentscheiden 2C_666/2011 vom 7. März 2012 und 2C_1079/2012 vom 11. April 2013
Der Entscheid des Bundesgerichts vom 7. März 2012 wurde vor den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte weitergezogen. Das Gericht stützte in seinem Urteil die Argumentation des Bundesgerichts, indem es der Integration der Kinder und der Gleichbehandlung den Vorrang gab vor dem Wunsch der Eltern, ihre Töchter aus religiösen Gründen vom Schwimmunterricht zu dispensieren.
Quelle: Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, Urteil Osmanoglu und Kocabas gegen die Schweiz, Beschwerde 29086/12, vom 10. Januar 2017.
Maturitätsprüfung am Samstag
Die Ablehnung eines religiös begründeten Antrags auf Dispensation von einer Prüfung am Samstag, der in der besagten Religion als Sabbattag gilt, verletzt die Religionsfreiheit. Zudem ist das Nachholen einer Prüfung bereits für andere Situationen wie Krankheit, Unfall, Trauer oder für den Fall gleichzeitig stattfindender Aufnahmeprüfungen für ein Hochschulstudium vorgesehen. Für diese Situationen müssen die Schulen auf jeden Fall Nachholprüfungen vorsehen. Der Mehraufwand für die Durchführung der Prüfung zu einem anderen Zeitpunkt geht dem persönlichen Interesse der betroffenen Person an der Sabbats-Ruhe nicht vor, sodass die Verweigerung des Dispenses unverhältnismässig ist.
Quelle: BGE134 I 114
Singen
Eine generelle Dispensation von Kursen, die einen religiösen Charakter haben können, da zum Beispiel vor Ostern und Weihnachten Lieder gesungen oder religiöse Orte besucht werden, ist nicht möglich. Eine Dispensation im Einzelfall ist jedoch möglich, wenn aufgezeigt werden kann, dass das Kind in seiner Glaubensfreiheit beeinträchtigt ist.
Quelle:Bundesgerichtsentscheid 2C_724/2011 vom 11. April 2012.
Unterricht mit integrierten Yoga-Übungen
Die Teilnahme am Kindergartenunterricht, in den Yoga-Übungen integriert werden, stellt keinen Eingriff in die Religionsfreiheit dar. Die Yoga-Übungen – Bewegungs -,Entspannungs- und Atemübungen und das Vorlesen einer Geschichte – werden nicht als konfessionelle Handlung im Rahmen eines Religionsunterrichts, sondern lediglich als Entspannungsübungen angesehen, die ohne Verletzung der konfessionellen Neutralität durchgeführt werden können.
Quelle: Bundesgerichtsentscheid
2C_897/2012 vom 14. Februar 2013